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Ein Denkmal für einen berühmten Sandersdorfer mit Namen Gisander

Das Sandersdorfer Seniorenzentrum hat sich den wohlklingenden Namen „Gisander“ gegeben, aber warum? Wer ist Gisander?

Bild vergrößern: Nahaufnahme des Gedenkschildes an der ehemaligen Schule "Gisander"
"Sein Dichter-Pseudonym war "Gisander"; es war notwendig, daß er als Schriftsteller unerkannt blieb. Man fahndete nach ihm, weil er in seinen schriftstellerischen Arbeiten sich auflehnte gegen Ausbeutung und Unterdrückung der Tagelöhner, Leibeigenen, Bürger und Bauern durch die herrschenden "höheren" Stände."

Hinter „Gisander“ verbirgt sich der Schriftsteller Johann Gottfried Schnabel. Unter diesem Pseudonym hat Johann Gottfried Schnabel seine Werke veröffentlicht, um seine wahre Autorenschaft zu verschleiern. Gleichzeitig verweisen die Buchstaben GIS im Pseudonym auf den Autor, denn G steht für Gottfried, I für Johann und S für Schnabel und „-sander“ vielleicht für Sandersdorf?

Das Seniorenzentrum möchte mit dieser Namensgebung an den berühmten Sohn der Stadt erinnern. Denn Johann Gottfried Schnabel wurde hier, in Sandersorf, am 07. November 1692 geboren! Eine Bronzetafel am Pfarrhaus in Sandersdorf erinnert bereits an diesen Dichter. Wenn die Sandersdorfer mit Stolz und Nachdruck auf ihr kulturelles Erbe verweisen wollen, wird künftig auch ein die Zeit überdauerndes Denkmal in Form einer Bronzeskulptur vor dem Rathaus an ihn erinnern.

Schnabels berühmtestes Werk ist der Roman in vier Bänden, der von der Insel Felsenburg erzählt. Die Insel Felsenburg soll sich im südatlantischen Ozean befinden. Sie gibt es aber nicht wirklich, sie ist eine Erfindung des Autors. Sie ist eine Utopie! Der vollständige Titel dieses Romans über diese Insel lautet „Wunderliche Fata einiger See-Fahrer“. Er wurde in den Jahren 1731-1743 veröffentlicht. Für einige heutige Leser mag er möglicherweise nicht zeitgemäß erscheinen. Aber er ist kulturhistorisch sehr interessant und literarisch raffiniert gemacht, weshalb er heute Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung ist und wir, die

Bild vergrößern: Gisander in Sandersdorf-Brehna, einst Schule - heute Seniorenheim
Die Sekundarschule Sandersdorf gestaltet im November 1997 eine Festwoche und ehrt den 305. Geburtstag des Dichters Johann Gottfried Schnabel und blickt selbst auf ihr 110-jähriges Bestehen zurück. Aus diesem Anlass erhält sie den Namen Sekundarschule "Gisander". Das Schild befand sich direkt am Eingang und wurde nach dem Umbau des Gebäudes zu einem Seniorenheim leider wieder entfernt.

Mitglieder des Fördervereins Johann Gottfried Schnabel e.V., uns darum bemühen, dass er nicht vergessen wird. Der Roman vermittelt durch die überaus lebendig und spannend erzählten Lebensgeschichten der Seefahrer, die zu großen Teilen aus Mitteldeutschland stammen – auch aus der Umgebung von Sandersdorf –, einen sehr plastischen Eindruck vom Leben der kleinen Leute zur Zeit von Schnabel. Die Seefahrer, die auf der Insel Felsenburg stranden, stammen zu großen Teilen aus der Handwerkerzunft, denen das Leben in der Heimat nur Elend, Kummer und Leid bescherte, weshalb sie sich auf die Seereise begeben haben. Manche von ihnen waren Opfer von Verbrechen infolge maßloser Gier oder von Neid oder von Machtstreben ihrer Mitmenschen. Auf der Insel Felsenburg finden die Geplagten schließlich die Ruhe und das Glück, das ihnen in der verdorbenen Welt nicht vergönnt gewesen war. Die Insel Felsenburg ist eine „Utopia“, ein Ort im Nirgendwo, wo das irdische Glück zur Zeit von Schnabel noch denkbar ist. Dort lebt eine kleine Gesellschaft von Lutheranern nach dem Vorbild der ersten christlichen Gemeinden. Die Redlichkeit der Inselbewohner soll der Garant für Frieden und Wohlstand sein, wenigstens für eine gewisse Zeit, so könnte eine Lesart sein. Schnabel macht es den Lesern aber nicht so einfach! Mit diesem literarisch sehr komplex angelegten Roman, mit Ironie-Signalen und Anzeichen unzuverlässigen Erzählens lässt er die Leser am Ende unschlüssig und ratlos zurück, auf dass man selbst darüber nachdenke, wie dauerhaft Frieden möglich ist. Der Beginn der Inselpopulation ist eine Geschichte ganz nach dem Vorbild des damaligen Bestsellerromans Robinson Crusoe von Daniel Defoe (1719). Eine Robinsonaden-Erzählung füllt demnach den ersten Band des Romans. Nach einem Schiffsunglück strandet eine kleine Gruppe von vier Personen auf der unbewohnten Insel, aber nur zwei von ihnen überleben das Drama: Albert Julius aus Sachsen und Concordia. Es folgt eine minutiöse

Bild vergrößern: Das evangelische Pfarrhaus in Sanderdorf-Brehna
An dem im Jahr 1876 erbauten evangelischen Pfarrhaus wird am 7. November 1955 die Schnabel-Gedenktafel feierlich enthüllt.

Beschreibung des Überlebenskampfes dieser beiden auf der Insel, wo es nichts gibt, was der Mensch notwendig zum Leben braucht und wo überall Gefahren lauern. Nebenbei entspinnt sich aber auch eine anrührende Liebesgeschichte. Aus dem Pärchen entsteht eine große Familie. Ähnlich der biblischen Erzählung der Entstehung des Gelobten Landes bilden sich aus den Nachfahren und neu Hinzugereisten neun Stämme heraus. Auf der Insel Felsenburg werden diese Stämme „Pflanzstädte“ genannt. Das Inseloberhaupt ist der redliche Lutheraner Albert Julius, der als Greis seinem Urgroßneffen und Inselchronisten, Eberhard Julius, die Idealgemeinschaft in allen Einzelheiten zeigt. Gemeinsam reisen sie von Pflanzstadt zu Pflanzstadt und allabendlich hören sie die Lebensgeschichten von ehemaligen Seefahrern, die nun Felsenburger geworden sind.

Bereits der junge Goethe zählte diesen sehr spannend erzählten Roman zu seiner Lieblingslektüre. Für uns heutige Leser ist Schnabels Werk ein wunderbares Zeitdokument, das uns wie ein Schlüsselloch einen Blick in die Zeit der Frühaufklärung in Deutschland zu geben vermag.

Man kann mit Fug und Recht sagen: Diese Geschichte beginnt in Sandersdorf! Schnabel lebte jedoch nur zwei Jahre in Sandersdorf. Er

Bild vergrößern: Gedenktafel am evangelischen Pfarrhaus in Sandersdorf-Brehna
Der Dichter Johann Gottfried Schnabel ist einer der bekanntesten Kinder von Sandersdorf-Brehna.

hat im Alter von zwei Jahren beide Eltern verloren! Wahrscheinlich wurde das Kleinkind Johann Gottfried von seinem Onkel, einem evangelischen Pfarrer im benachbarten Altjeßnitz, aufgenommen. Er brachte den Knaben im Januar 1702 in die Waisenhausschule nach Halle zu August Hermann Francke. Der Jüngling Johann Gottfried absolvierte nach vier Jahren Lateinschule bei Francke eine Lehre als Barbier. Es folgen sechs Jahre Militärdienst. Dabei zog er mit in den große Nordischen Krieg, geführt von Prinz Eugen, dem er leibhaftig begegnet sein soll. Von Schnabel gibt es deshalb eine Prinz-Eugen-Biographie. In der Armee diente er als Feldscher (Sanitäter). Nach dem Militärdienst widmete er sich wieder seiner Barbierzunft. Er heiratete 1721 in Querfurt, zog 1724 mit seiner Familie nach Stolberg. Dort trat in den Dienst des Grafen von Stolberg, zunächst als Hofbarbier, dann als Kammerdiener und Hofagent. Er brachte jahrelang die Stolbergische Sammlung Neuer und Merckwürdiger Welt-Geschichte heraus, eine Art wöchentliches Nachrichtenblatt. In den Stolberger Jahren verfasste Schnabel seine Romane, den vierbändigen Roman Wunderliche Fata einiger Seefahrer und Der im Irr-Garten der Liebe herum taumelnde Cavalier (1738). An der Schriftstellerei dürfte Schnabel allerdings nichts verdient haben. Er verlor zudem früh seine Frau bei der Geburt des siebenten Kindes. Ein Bettelbrief an den Grafen bezeugt seine finanzielle Not in dieser Zeit. Wir gehen davon aus, dass Schnabel zwischen 1744 und 1748 verstorben ist, wann und wo genau muss noch erforscht werden.

Dr. Heidi Nenoff